PROLOG
Eine imaginäre Linie wurde gezogen. Sie trennte das Innen und das Außen, das Gut und das Schlecht. Bis es zu einer großen Bewegung kam. Zu groß, um sie aufzuhalten. Um die poröse Linie undurchdringbar zu machen, wurde erbarmungslos
Gebrauch von einem Bauwerk gemacht. Zuerst nicht mehr als ein Stacheldraht, bis daraus nach und nach eine Mauer wurde - unüberschreitbar für all jene, die nicht erwünscht waren.
Die Grenze war ein Meisterwerk.
HEUTE
Archäologen haben eine zweite Welt gefunden – alt und unter der Erdoberfläche vergessen. Eine Welt, die in Trümmern liegt. Eine Welt, voll von Städten. Doch diese Städte waren anders. Eingeschlossen und abgegrenzt. Lebab hat nichts mit dieser Definition von Stadt gemein. Es gibt keine Stadtplanung, keine Macht. Wir leben in einem Netzwerk, einer freien Gesellschaft ohne Grenzen, in permanenter Veränderung und Transformation. Es ist eine Art des Denkens, des Imaginierens. Der Ort ist über seine Identität hinausgewachsen. Wie eine Flüssigkeit passt sich Lebab immer wieder an. Aber wem erzähle ich das?
Das Interessante an den nun gefundenen Fragmenten ist, dass sie uns viel über die Entstehung von Lebab erzählen.
Uns die Augen öffnen, um die neuen Formen des Politischen auszumachen, die sich in diesen räumlichen Bezügen behauptet haben. Wir hatten schon vergessen, wie Lebab eigentlich entstanden ist. Früher hatten die Territorien an ihren Außenseiten Grenzräume. Dort verlor sich, in der Wahrnehmung der Bewohner, die Ordnung in die Unordnung hinein. Dies war der Raum der Transformation. Der Grenzraum, in dem die unterschiedlichsten Systeme und Dinge aufeinander trafen, kollidierten und zerfielen, nicht in ein Chaos, viel mehr in neue Kräfte. In genau so einem Territorium entwickelten sich die Kräfte, die zur Gründung von Lebab geführt haben müssen. Aus Zwängen wurde ein Anliegen. Aus der Not ein neuer Lebensraum. Darunter die Ruinen der alten Welt.
GESTERN
Wir sind gekommen um weiterzuziehen.
Wir sind weit gekommen, bis wir von der Grenze aufgehalten wurden.
Wir sind gekommen um zu bleiben.
Die Welt ist eine durch Grenzziehung geschaffenen Ordnung. Zu dieser Ordnung gehört auch die Entscheidungen, wie die Grenzen aussehen: Ob sie durchlässig sind, ob es Übergänge gibt und für wen diese gelten. Für uns gab es kein Überschreiten. Wir saßen fest. Am Anfang lebten wir in improvisierten Unterkünften. Erst waren es Zelte und Verschläge, dann Hütten. Die Grenze als Linie, stellte sich als Raum heraus. Wir waren in diesem Raum, in der Linie. Es gab kein Vor und kein Zurück. Wir machten uns die Grenze zu Eigen - wir markierten unser Territorium. Das Zeichen der Grenze war für uns nicht nur die Festlegung einer Siedlungsform, sondern auch die Möglichkeit der Koexistenz von Menschen und Machtformationen.
Der Raum wurde immer enger und die Versuche, die Linie, den Raum zu dehnen, scheiterten. Die uns umgebenden Staaten übten Druck aus. Einzig der unendliche Himmel über uns stellte eine Möglichkeit dar, weiteren Raum in Anspruch zu nehmen. Wir fingen an zu bauen, ängstlich, respektvoll, optimistisch. Wir bauten mit allem, was wir hatten. Auch wenn die Umstände nicht einfach waren, wir begriffen die Situation als Sockel, um etwas Neues zu schaffen. Ein Verbund an Heimaten. Es entstanden temporäre gemeinschaftliche Unterkünfte, sich ständig umformende Lebensbereiche, stets neue, raumhafte Einteilungen, neue Hegungen und neue Raumordnungen.
Diese Strukturen wurden immer größer, wir gaben ihnen den Namen Lebab. Lebab war noch immer unerwünscht, aber inzwischen zu groß um es noch leugnen zu können. Und wir hörten, dass es diese Entwicklung nicht nur bei uns, sondern auch an anderen Stellen auf der Welt, in ähnlichen Situationen gab.
DAZWISCHEN
Vor vielen Jahren sind überall auf der Welt in Grenz- und Konfliktregionen riesige Strukturen entstanden. Es kam zur Eruption im Grenzraum. Ich erinnere mich noch wie es begann, damals war ich ein kleines Kind. Täglich kam es in den Nachrichten. Niemand wusste, wie man damit umzugehen hat. Irgendwann haben sich dann die Solitäre miteinander verbunden und angefangen ein Netzwerk zu bilden. Lebab ist entstanden und wurde schnell zu einem beliebten Reiseziel. Auch ich machte mich auf den Weg, um es mir mit eigenen Augen anzusehen. Und schon aus weiter Ferne war zu erkennen, wie es sich vor dem blauen Himmel aufrichtete – riesig am Horizont. Getragen von hohen Pfählen, die sich in großem Abstand aus dem Boden erheben. Es ist beeindruckend, beängstigend. Dieses riesige Etwas erhebt sich mehrerer hunderte oder sind es tausende Meter über dem Erdboden. Und einen genauso großen Schatten wirft es auf die Welt.
Das Bild des Großen hat eine solche Macht über meine Sinne, dass sogar die Vorstellung, es sei schrecklich, in mir noch das Gefühl von Bewunderung hervorruft.
Die einzige Grenze von Bedeutung scheint noch zwischen Oben und Unten zu existieren. Oben angekommen, fällt es mir schwer zu beschreiben, was ich gesehen habe.
Ist es eine Stadt oder sind es viele, die dort über die gewellte Hochebene verstreut sind? In der immer gleichen Erscheinungsform scheinen sich die unterschiedlichsten Dinge zu befinden. Die Grenzen sind graduell, verwischt. Nicht immer sind mir die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen klar. Es erscheint sich durch sukzessive Überlagerungen so ergeben zu haben. Sicher aber ist: Es hat nichts, was es wie eine Stadt aussehen lässt. Ein Ort der sich formlos ausbreitet, mit lauter kreuz und quer verlaufenden Wegen, Treppen und Häusern.
MITTENDRIN
Viele Freunde von mir, die hier leben, kommen von Unten. Über die Jahre wurde Lebab zum Ort des Begehrens - immer größer, ihr Schatten immer mächtiger. Die alte Welt fing an zu zerfallen. Es kam zum Exodus. Ich bin in Lebab geboren und war noch nie unten, was sollte ich dort? Wir haben alles Notwendige hier. Hin und wieder erhascht man einen Blick nach unten. Viele hundert Meter nichts, und wenn die Wolken vorbeigezogen sind, sieht man den Grund einer anderen Landschaft.
Lebab ist ein kartografischer Raum, wie eine Karte die sich über die Welt legt. Sie erscheint wie die Landschaft unten, spiegelt sie, kopiert sie.
Eine Konstruktion, wie eine Erinnerung an die Landschaft. Natur und Stadt verschmelzen in einer Karte. Eine Karte, in der wir frei sind uns zu bewegen, wo immer wir hin wollen.
Darum beschreiben wir Lebab lieber mit den Metaphern des Liquiden, als des Stationären. Das Fluide und das Stationäre haben unterschiedliche Räume, in denen sie ihre Wirkung entfalten: Das Regime der Grenzen bevorzugt das Land, den festen Boden, wo Grenzen markiert und Grenzzäune errichtet werden können. Während Lebab sich im unbestimmten Raum entwickelt. Lebab ist eine von sich selbst befreite Architektur.
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